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Alexander Steig

NESTLER-TV (STAR #10)
2-Kanal Closed-Circuit Videoinszenierung, ehem. Kiosk, Sperrengeschoss Nord, U-Bahnhof Nordfriedhof, München

Vom 20. September bis 31. Oktober 2023 duchgehend geöffnet.


Monitorbild 1

Wird der Münchner U-Bahnhof Nordfriedhof vom nördlichen Zugang aus betreten, gelangt man über eine Galerie im Sperrengeschoss beidseitig zum ehemaligen Kiosk, dessen Front in drei Fensterbereiche gegliedert ist. Hinter den beiden äußeren Fenstern sind zwei Kontrollmonitore aktueller Bauart dergestalt gegenüber positioniert, dass vorbeigehende Personen die Bildschirme gut einsehen können. Auf dem linken Bildschirm ist formatfüllend ein Augenpaar zu erkennen, dass sich scheinbar leicht bewegt und dabei auf den gegenüberliegenden Monitor schaut, aber eben auch aus dem Fenster des Kiosks hinaus. Der Monitor rechts zeigt ein Kamera- bzw. Videobild des menschenleeren Stadtauswärts-Bahngleises des U-Bahnhofs Nordfriedhof mit aktuellem, also fortlaufendem Zeitstempel (Datum, Uhrzeit läuft rechts unten im Bild), so dass hier der Eindruck entsteht, es handele sich um die Live-Übertragung einer Überwachungskamera aus dem Gleisbereich der unten liegenden Station. An der hinteren, schwarz gestrichenen Innenwand des Kiosk in Bodennähe erkennen die Betrachter:innen bei genauerem Hinsehen zwei nebeneinanderhängende Fotos (ca. A4 Hoch- und Querformat). Eines zeigt das Schwarzweiß-Portrait eines der Mehrheit unbekannten Mannes (Paolo Nestler, Foto um 1965[1]), das andere farbig den Gleisbereich Nordfriedhof (Aufnahme von 2017). Vor den Fotos ist jeweils eine Videokamera positioniert, die möglicher Weise das jeweilige Foto aufnimmt und direkt zu einem der beiden Monitore überträgt.


Monitorbild 2

Das gesamte Setting wirkt unprätentiös, rau, arm und semi-provisorisch, dennoch theatral. Die scheinbare Live-Übertragung des Gleisbereichs, zu dem dieses Sperrengeschoss führt, mutet vertraut an, allein dass der Gleisbereich dauerhaft leer bleibt (trotz aktuellem Zeitstempel) könnte irritieren. Das Augenpaar des Architekten Paolo Nestler, der für die nüchterne Stationsgestaltung der meisten Bahnhöfe der ersten U-Bahnstrecke U6, die zu den Olympischen Sommerspiele 1972 eröffnet wurde, verantwortlich zeichnet, schaut bzw. überwacht mit dauerhaft geöffneten Augen unablässig innerhalb des von ihm gestalteten Bauwerks die Videoübertragung „seines Bauwerks“ (Gleisbereich gegenüber bzw. unterhalb der Galerie).


Entwurfscollage

Am 31. Januar 1965 wurde am U-Bahnhof Nordfriedhof der erste Spatenstich beim Bau des Münchner U-Bahn-Netzes vollzogen. Mit der Verankerung des ersten Stahlträgers durch den bayerischen Ministerpräsidenten Alfons Goppel und den Münchner Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel an gleicher Stelle folgte der symbolische Baubeginn zwei Tage später. Außerdem wurde hier am 7. Oktober 1966 das erste Richtfest für einen Münchner U-Bahnhof gefeiert. Der reguläre U-Bahn-Betrieb wurde am 19. Oktober 1971, gemeinsam mit der Eröffnung der Strecke zwischen den 13 Stationen Goetheplatz und Kieferngarten, aufgenommen. Gut 50 Jahre später tritt der Architekt des Bahnhofs Nordfriedhof, Paolo Nestler, posthum und intermedial über die Zeit hinweg in einen aktuellen Dialog mit seinem Werk direkt dort, wo selbiges die erste Ausgestaltung erfuhr. Neben dieser „stillen Meditation“ Nestlers über sein Schaffen, dem intimen, fast kontemplativen Dialog von Subjekt zu oder über Objekt – der gleichzeitig öffentlich geführt wird –, neben der Fokussierung auf eine verstorbene Person und ihr Werk[2], dass „unerkannt“ Millionen von Bürger:innen der Landeshauptstadt begegnet(e), befragt die künstlerische Intervention NESTLER-TV / STAR #10[3] darüber hinaus die Rolle der Architektur als Festschreibung gesellschaftspolitischer Verfasstheit, untersucht Kontrollmechanismen und -strategien verschiedener Akteur:innen (hier MVV) im öffentlichen Raum zwischen Sicherheitsversprechen und Intimitätsverlust, bringt in drei Akten (Fenstern) ein 24/7 CCTV-Kammerspiel auf die Bühne, lässt ein „virtuelles Augenpaar“ die simulierte Überwachung eines „Gefahrenbereichs“ überwachen und bindet dabei die Betrachter:innen außen vor dem „Theater-Kiosk“ ein, über diesen Ort, seine Geschichte und Funktion, wie auch über die eigene Wahrnehmung des öffentlichen Raums zu reflektieren. NESTLER-TV / STAR #10 arbeitet gegen das vermeintliche A-priori-Wissen zu diesem Ort an und lädt ein, scheinbar vertrautes Umfeld generell als inkonstant zu identifizieren und differenzierter zu betrachten.


Fotos: Toby Binder

 


[1] 1965 gewann der von 1959 bis 1985 an der Akademie der Bildenden Künste München als Professor Innenarchitektur lehrende Architekt Paolo Nestler (1920-2010) den ausgelobten Architektenwettbewerb für die Stationsgestaltung der U6 (Nordfriedhof, Dietlindenstraße, Münchner Freiheit, Gieselastraße Universität, Odeonsplatz, Sendlinger Tor, Goetheplatz sowie später Implerstraße, Harras, Mangfallplatz und Klinikum Großhadern) mit dem Konzept, die Bahnhöfe zweckmäßig und schlicht einzurichten und durch Farb- und Formkodierung der Säulen einfach unterscheidbar zu halten.

[2] Paolo Nestler zeichnet für über 25 weitere Bauprojekte in München und andernorts verantwortlich, u. a. 1972 für die die temporäre Erweiterung des Haus der Kunst während der Olympischen Sommerspiele und für das Klangzentrum für experimentelle Musik wie auch 1979 mit Günter Fruhtrunk für das Foyer der UN, New York, hat architekturtheoretisch publiziert und gelehrt, stand als Präsident der AdBK München vor (1965-69) und war ab 1968 Mitglied der Akademie der Künste Berlin, Sektion Baukunst.

[3] In der seriell angelegten Reihe STAR befrage ich seit 2003 medial und inszenatorisch bisher 9 verstorbene Personen an Orten ihres Lebens und/oder Schaffens, z B. 2018 (STAR #9) den Künstler und Reformer Johann Heinrich Vogeler im Barkenhoff Worpswede, dessen ehem. Wirkstätte, 2016 (STAR #8) Franz Josef Strauß in der Ermekeilkaserne Bonn (dessen Arbeitsplatz als 2. Verteidigungsminister) oder 2007 (STAR #4) Karol Wojtyła (also Pabst Johannes Paul II) am College of Humanities and Journalism in Posen (PL).


Entwurfsskizze und Portaitfoto von Paolo Nestler

Abbildungsnachweise:
Prof. Paolo Nestler (Architekt): Copyright Fotoarchiv Otfried Schmidt/Süddeutsche Zeitung Photo
U-Bahnhof-Vorlage: Florian Schütz, München
© Alexander Steig, VG Bild-Kunst, Bonn 2023.

 

Die Videoinszenierung NESTLER-TV (STAR #10) ist Teil von "Kunst Kioske", einem stadtweiten Projekt zur Belebung der leerstehenden Kioske in den Münchner U-Bahnhöfen durch künstlerische Interventionen, die in einem zweistufigen Wettbewerb ausgewählt wurden. Projektleitung/Konzept und Kuration: Corbinian Böhm und Gabi Blum, BBK München und Oberbayern e.V. und Dr. Christian Landspersky, PLATFORM München.
Weitere Informationen unter: kunstkioske.de

 

Gefördert durch den BA 12, Schwabing-Freimann der Landeshauptstadt München

Mit Unterstüzung durch das NEUSTARTplus-Stipendium, Stiftung Kunstfonds, Bonn

 

 

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